Vom Entschluss, ein Buch zu schreiben, bis zur Veröffentlichung dauerte es circa zweieinhalb Jahre. Zwischen dem ersten Interview und der Veröffentlichung lagen sogar fast sieben Jahre. Dieser Artikel handelt vom Entstehungsprozess des Buches.
Der Anfang
Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Interview mit meinem Urgroßvater im Jahr 2015. Damals wusste ich über seine Kriegserlebnisse lediglich, dass er in der Nähe des Emslandlagers Bathorn aufgewachsen war und in den Niederlanden Fahrräder stehlen musste. Ich wollte mehr darüber erfahren, was er erlebt hatte, und stellte eine Liste mit allen Fragen zusammen, die mich interessierten. Nach einem fast dreistündigen Interview, in dem ich viele spannende Geschichten über meinen Urgroßvater und die anderen Familienmitglieder gehört hatte, musste ich die ganzen Eindrücke erst einmal gedanklich verarbeiten und die Aufzeichnung transkribieren, um alle Informationen zu sortieren. Im Zuge dessen tauchten neue Fragen auf, die ich ihm in den folgenden Jahren im Rahmen weiterer Interviews stellte.
Mein Urgroßvater spricht auch öffentlich viel vom Krieg. Er wird regelmäßig eingeladen, um Vorträge zu halten, Schulklassen zu besuchen oder vor Fernsehkameras von seinen Erlebnissen zu berichten. Mich beeindruckte nicht nur, wie fließend und zusammenhängend er seine Erfahrungen trotz seines hohen Alters schildern konnte, sondern auch seine Bereitschaft, wie selbstverständlich darüber zu sprechen, sowie sein Bestreben, die Erinnerung wachzuhalten und dabei immer wieder zu betonen, dass Krieg grausam und nichts Erstrebenswertes ist. Er beantwortete alle meine Fragen ausführlich – jederzeit – und holte nicht selten passende Fotos oder Dokumente zu den jeweiligen Geschichten hervor. »Ich erzähle dir alles, was du wissen möchtest«, versprach er mir.
Irgendwann reifte in mir die Idee, ein Buch über seine Kriegserlebnisse zu schreiben. Ich fand es zu schade, dass all die Informationen und Geschichten nur auf meiner Festplatte liegen und nicht weitergegeben werden würden. Daher traf ich im Sommer 2019, nachdem mein Urgroßvater erfreut zugestimmt hatte, die Entscheidung, das Buchprojekt in die Tat umzusetzen.
Der Schreibprozess
In den folgenden Monaten unternahm ich bei jeder Gelegenheit, die sich ergab, eine »Recherchereise« nach Bathorn, um meinen Urgroßvater zu besuchen und weiteres Material zu sammeln. Ich führte Interviews, arbeitete meine teilweise seitenlangen Fragelisten ab, scannte Fotos ein und verbrachte viel Zeit mit meinem Urgroßvater. Auf jede Reise folgte eine Menge Arbeit: Zunächst musste ich die Sprachaufzeichnungen transkribieren. Eine Interviewstunde lässt sich per Hand in etwa drei bis vier Stunden transkribieren. Im Laufe der Zeit zeichnete ich etwa fünfzig Stunden Tonmaterial auf, dessen wortwörtliche Transkription über 470 Wordseiten füllte. Indem ich mich auf diese Weise erneut mit den Erzählungen auseinandersetzte, ergaben sich jedes Mal neue Fragen, die ich mir für das nächste Interview notierte. Ab dem Beginn der Coronapandemie in Deutschland im März 2020 sah ich meinen Urgroßvater für eineinhalb Jahre nicht mehr und führte die Gespräche nur noch telefonisch.
Die Sammlung an Informationen aus dem Worddokument musste ich im nächsten Schritt thematisch sortieren. Dazu erstellte ich mehrere Überschriften und ordnete jeden Absatz per »Ausschneiden und Einfügen« dem entsprechenden Thema zu. Dabei arbeitete ich mit verschiedenen Schriftfarben, um beispielsweise unwichtige Informationen zu markieren oder Anmerkungen zu kennzeichnen. Es waren mehrere Schritte notwendig, um den Text auch innerhalb dieser einzelnen Überschriften noch einmal zu sortieren. Parallel dazu erstellte ich ein 29-seitiges Dokument, meine »Buchplanung«, in das ich tabellarisch alle Szenen und Ereignisse eintrug, um mir einen Überblick zu verschaffen und zu planen, in welcher Reihenfolge und in welchem Kapitel sie im Buch erscheinen sollen. Viele Einträge ergänzte ich um eine Datumsangabe, um die zeitliche Abfolge bei der Planung der Szenen im Blick zu behalten. Ich entschied mich dafür, die Geschichte meines Urgroßvaters größtenteils chronologisch zu erzählen, und konnte durch die Buchplanung zum ersten Mal einen roten Faden erkennen.
Danach übertrug ich die sortierten Texte aus der Transkriptionsdatei systematisch in ein neues Dokument, das Manuskript, indem ich die Informationen in meinem eigenen Wortlaut aufschrieb und die übernommenen Textstellen in der Transkriptionsdatei mit Hinterlegungen markierte, um später noch zu wissen, welche Informationen ich bereits eingearbeitet habe. Bei diesem Arbeitsschritt war der Umstand sehr hilfreich, dass mein Urgroßvater mir einige Geschichten mehrfach erzählt hatte, denn bei jeder Version hatte er den Fokus etwas anders gelegt oder weitere Details erwähnt. So konnte ich auf Grundlage mehrerer Erzählungen eine neue, umfassende Version einer Szene unter Berücksichtigung aller gesammelten Details zusammenstellen. Dabei zeigten sich vor allem die Lücken der Szenen, die Stellen, wo noch Informationen fehlten, um ein Ereignis vollständig darzustellen, was zu erneuten Interviews führte. Besonders wichtig war es in dieser Phase, immer ein Notizbuch mitzunehmen, da einem die besten Sätze – gerade in den Schreibpausen – von allein einfallen.
Nachdem ich das gesamte Manuskript auf diese Weise fertiggestellt hatte, folgten zahlreiche Überarbeitungen, bis ein von vorne bis hinten flüssig lesbarer Text entstand. Von Vorteil war es dabei, regelmäßig Backups anzufertigen, die Dateien nach dem Erreichen bestimmter Meilensteine eindeutig zu benennen (»Ausgangsdatei«, »Bearbeitungsdatei«, »Manuskriptdatei«) und über alle Anpassungen, Schritte und Bezeichnungen Buch zu führen.
Recherche
Darüber hinaus musste ich während des gesamten Schreibprozesses durchgehend recherchieren, um sicherzustellen, dass mein Urgroßvater seine Erinnerungen korrekt wiedergegeben hatte. In diesem Zusammenhang konnte ich einige Fälle des »False-Memory-Syndroms« entdecken. Dabei handelt es sich um das Phänomen, dass falsche Erinnerungen wiedergegeben werden. Das geschieht nicht absichtlich – menschliche Erinnerungen sind grundsätzlich fehleranfällig – und die geschilderten Ereignisse müssen dabei nicht prinzipiell falsch sein; es ist auch möglich, dass die Gedächtnisinhalte verzerrt oder mit anderen Erlebnissen vermischt werden. Das auffälligste Beispiel betrifft die Szene, in der mein Urgroßvater am 17. April 1945 in Kriegsgefangenschaft geriet und von einem kanadischen Soldaten zur Sammelstelle begleitet wurde. Mein Urgroßvater erinnert sich daran, dass ihm der Kanadier davon erzählte, dass sich die Russen und die Amerikaner an der Elbe getroffen hätten. Dieses Aufeinandertreffen fand jedoch erst am 25. April statt. Nun gibt es mehrere Möglichkeiten, diese Erinnerung zu erklären: Es kann sein, dass mein Urgroßvater eine Woche später eine ähnliche Situation erlebte, in der er davon erfuhr, heute jedoch davon ausgeht, dass der kanadische Soldat ihm davon berichtete. Denkbar ist auch, dass ihm der Kanadier etwas ganz anderes erzählte (womöglich von der Schlacht um Berlin, die einen Tag zuvor begonnen hatte) und dass diese Information im Gedächtnis meines Urgroßvaters durch eine andere ersetzt wurde. So könnten sich seine Erinnerungen in diesem Fall vermischt haben.
Die Rechercheergebnisse habe ich in einem 53-seitigen Dokument festgehalten, sie fließen auch in meine Artikel ein, die ich auf dieser Website zur Verfügung stelle. Besonders wertvoll waren Kontakte zu Historikern, Archivaren und Experten aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Kanada, die mich bezüglich schwierigerer Recherchefragen berieten, mir Hinweise zu meinem Projekt gaben und einzelne Szenen zur Prüfung der historischen Korrektheit lasen.
Dennoch ließ sich nicht alles rekonstruieren. Besonders schwierig war es, die Fronterlebnisse in eine Reihenfolge zu bringen. Ich habe viel gelesen, Frontverlaufskarten analysiert und anhand geografischer Begebenheiten versucht, nachzuvollziehen, welche Ereignisse an welchem Ort stattgefunden haben könnten. Dies ist nicht in allen Fällen gelungen, weshalb ich diese meist kurzen, für sich stehenden und nicht in einen Zusammenhang mit anderen Szenen zu bringenden Erlebnisse gewöhnlicherweise an Stellen eingeflochten habe, an denen sie als Vergleich, Beispiel oder allgemeine Erläuterung angeführt werden.
Obwohl ich im Rahmen der Recherche einige Details gelegentlich leicht anpassen musste, um einen historisch korrekten Text zu verfassen, war es mir beim Schreiben besonders wichtig, mich an die Tatsachen zu halten, von denen mein Urgroßvater mir erzählte. Aus diesem Grund habe ich keine weiteren Beschreibungen, Personen und Dialoge hinzuerfunden. Einige Szenen hätte ich atmosphärischer umsetzen können, beispielsweise diejenige, in der mein Urgroßvater morgens vom Spähtrupp zurückkehrte und an der IJssel entlanglief. Ich hätte schreiben können, dass schon die ersten Sonnenstrahlen am wolkenlosen Himmel zu sehen waren, dass Nebel über dem Fluss lag und dass in Ufernähe ein Haus mit einem zerstörten Dach stand. Vielleicht war es in Wirklichkeit jedoch ein trüber, regnerischer Tag gewesen und ein Haus mit einem zerstörten Dach nahe der IJssel hatte möglicherweise im Nachbardorf gestanden. Ich wollte, dass mein Buch für weitere Nachforschungen genutzt werden kann, und solche hinzuerfundenen Beschreibungen hätten dabei zu falschen Schlussfolgerungen geführt. Deshalb habe ich mich dafür entschieden, keinen historischen Roman zu schreiben, der auf die Weise »So könnte es gewesen sein« verfasst wird, sondern um einen Zeitzeugenbericht, der Tatsachen wiedergibt.
Schritte zur Veröffentlichung
Nach der Fertigstellung des Manuskripts und zahlreichen Überarbeitungsdurchgängen führte Christiane Saathoff ein Lektorat durch, bei dem der Text unter anderem hinsichtlich Stil, Logik und Handlungsaufbau geprüft wurde. Nach dem Lektorat stand eine weitere Überarbeitung des Manuskripts meinerseits an. Im Zuge dessen legte ich zum Beispiel einen stärkeren Fokus auf das deutsch-niederländische Verhältnis, das ich zuvor in geringerem Umfang thematisiert hatte, und ordnete einige Ereignisse genauer ein, indem ich ergänzte, was mein Urgroßvater aus heutiger Sicht über sie denkt. Dazu befragte ich ihn zu vielen weiterführenden Aspekten und konnte diese Interviews nach langer Zeit wieder im persönlichen Gespräch durchführen.
Nach einer letzten Prüfung der überarbeiteten Textstellen durch meine Lektorin und weiteren Prüfungsdurchgängen meinerseits ging das Manuskript ins Korrektorat. Obwohl ich nebenbei als Lektorin und Korrektorin arbeite, sollte man diese wichtigen Schritte nie selbst durchführen, da man seine Fehler nicht mehr sieht, je länger man sich mit dem eigenen Text beschäftigt. Weiterhin ist zu empfehlen, ein professionelles Cover entwerfen zu lassen. Dieses hat Laura Newman für mich gestaltet und darüber hinaus die Anfertigung des Buchsatzes, des Innenlayouts, übernommen.
Auch wenn das Selfpublishing aufgrund mancher Bücher, die eine geringe Qualität aufweisen, zum Teil immer noch ein negatives Ansehen hat, habe ich mich für eine Veröffentlichung ohne Verlag entschieden, weil ich auf diese Weise alle Freiheiten sowie die Kontrolle über mein Buch behalten und selbst entscheiden konnte, wie das Cover aussehen soll, welchen Titel ich wähle und wer das Lektorat durchführt. Gerade bei solch einem persönlichen Projekt war es mir wichtig, dass das Buch am Ende genau so aussieht, wie ich es mir vorgestellt habe. Dennoch habe ich großen Wert auf Professionalität gelegt, damit sich das fertige Buch nicht von einem Verlagstitel unterscheidet. Für den Selfpublishing-Anbieter Tredition habe ich mich trotz der vergleichsweise hohen Druckkosten unter anderem deshalb entschieden, weil es kein Limit für die Versendung von Ansichts- und Rezensionsexemplaren an Buchhändler, Buchblogger und Journalisten gibt.
Nach zweieinhalb Jahren konnte ich das Buch schließlich veröffentlichen. Damit ist die Arbeit jedoch nicht getan, denn im Anschluss daran muss das Buch vermarktet werden, wofür sowohl Verlagsautoren als auch Selfpublisher in der Regel selbst verantwortlich sind.