In den letzten Kriegswochen kam Hermann Kronemeyer als siebzehnjähriger Soldat an die Westfront und kämpfte mit seinen gleichaltrigen Kameraden gegen weit überlegene kanadische Truppen. Dabei mangelte es den Deutschen an Verpflegung, Schlaf und Ausrüstung. Ein aussichtsloser Kampf.
Die Recherche zu den Frontereignissen gestaltete sich als besonders schwierig, weil die Abfolge der Geschehnisse heute nicht mehr genau rekonstruiert werden kann.
Wir waren ständig unterwegs und blieben nie lange an einem Ort. Um uns möglichst leise fortzubewegen, liefen wir meistens über Seitenwege und mieden asphaltierte Straßen, weil wir Schuhe mit genagelten Sohlen trugen, um den Verschleiß zu reduzieren. Daher sahen wir kaum Ortsschilder und blieben im Unklaren, wo wir uns jeweils genau befanden. Ich wusste nur, dass wir uns im großen Umkreis von Apeldoorn aufhielten. Auch von der Kriegslage erfuhren wir nichts, weder wir noch die Offiziere erhielten Nachrichten. Niemand wusste, welches Datum oder welcher Wochentag war, wir waren vollkommen ohne Verbindung und wie von der Außenwelt abgeschnitten.
aus: Keute 2022: 127
Nach einer umfangreichen Recherche gehe ich davon aus, dass die Einheit meines Urgroßvaters nach dem Verlassen der Kaserne in Wezep die IJssel bei Zwolle überquerte und entlang des Ostufers in südliche Richtung zog. Bei der alten Ziegelei, in der die Truppe Quartier bezog, könnte es sich um die Steenfabrik Oldeneel oder die Steenfabrik Fortmond gehandelt haben. Vermutlich marschierte die Einheit von dort aus weiter Richtung Süden und hielt sich in der Gegend der Städte Deventer und Zutphen auf. Dort könnte sich die Szene ereignet haben, in der mein Urgroßvater vom Spähtrupp zurückkehrte und unter Artilleriebeschuss die IJssel mit einem Schlauchboot überquerte, nachdem die kanadische Armee einen Großangriff auf das Dorf gestartet hatte. Dieser Angriff hat sich laut meinem Urgroßvater auf ein größeres Dorf an der IJssel zugetragen und auch in einigen Quellen lassen sich Hinweise dafür finden, dass deutsche Soldaten die IJssel bei Deventer und Zutphen überquerten.
Im folgenden Beleg, in dem es um Deventer geht, werden zudem der Artilleriebeschuss und ein Graben erwähnt (möglicherweise handelt es sich um den Graben, in dem mein Urgroßvater und seine Kameraden auf das Schlauchboot warteten).
The enemy was forced back to his last major defensive line – an anti-tank ditch surrounding the town – but this did not long delay our troops. Resistance crumbled as many Germans were captured and others attempted to escape across the Ijssel, a manoeuvre rendered hazardous by the cooperating artillery of the 1st Canadian Infantry Division.
aus: Canadian Battlefield Tours o. J.
Im folgenden Zitat geht es um Zutphen; auch hier stimmt die Beschreibung mit den Erzählungen meines Urgroßvaters überein.
The coup de grâce was given on the morning of the 8th, when the brigade penetrated the factory area with the help of Crocodiles. By midday the historic old town had been completely cleared, some of the defenders escaping across the Ijssel in rubber boats.
aus: Canadian Battlefield Tours o. J.
Für die Kampfhandlungen sowohl in Deventer als auch in Zutphen lassen sich Hinweise dafür finden, dass die kanadische Seite Flammpanzer vom Typ Churchill Crocodile einsetzte, an die sich auch mein Urgroßvater erinnert. Die Überquerung der IJssel durch die alliierten Truppen wenige Tage später ist unter dem Codenamen Operation Cannonshot bekannt.
Nach dem Rückzug wurde die Einheit meines Urgroßvaters an Apeldoorn vorbei durch das Naturgebiet Veluwe Richtung Westen gedrängt und befand sich am 16. und 17. April in Voorthuizen. Artikel und Bilder zur Schlacht um Voorthuizen sind hier zu finden:
Im letztgenannten Zeitungsartikel ist ein Foto einer Kirche mit einer zerschossenen Spitze abgebildet.
Plötzlich krachte es. Ein Artilleriegeschoss durchschlug den Kirchturm und explodierte im Inneren, schwere Brocken und Bretter stürzten zu Boden. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Flucht zu ergreifen.
aus: Keute 2022: 145
Bei dem Bild handelt es sich um die Gereformeerde Kerk, in der sich mein Urgroßvater während des Beschusses versteckte. Der Kirchturm wurde deshalb zerstört, weil sich dort ein deutscher Beobachter befand, der sich von oben einen Überblick über die Lage verschaffen konnte.
Wer sich für die Ereignisse an der Westfront interessiert, dem empfehle ich das Buch »On to Victory: The Canadian Liberation of the Netherlands March 23 – May 5, 1945«, das aus kanadischer Perspektive geschrieben wurde.
Quellen:
Canadian Battlefield Tours (o. J.): Liberation of Holland Battles, [online] https://canadianbattlefieldtours.ca/liberation-of-holland-battles/ [letzter Aufruf 01.03.2022].
Crebolder, Gerjan (2020): De bevrijding van Voorthuizen werd een ware veldslag, in: Barneveldse Krant, [online] https://www.barneveldsekrant.nl/premium/historie/336956/de-bevrijding-van-voorthuizen-werd-een-ware-veldslag [letzter Aufruf 01.03.2022].
Keute, Celina (2022): Schüsse in der Stille. Hermann Kronemeyers Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg. Hamburg: Tredition.
Persönliche Interviews mit Hermann Kronemeyer (2015–2022).
Zuehlke, Mark (2010): On to Victory. The Canadian Liberation of the Netherlands, March 23 – May 5, 1945. Madeira Park: Douglas & McIntyre.
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